Serie: 100 Meistersprüche zu Tai Chi – Teil 035

100 Meistersprüche zu Tai Chi – Aussage 35

Meisterspruch 035:

„Nach langem Üben ist die Sensitivität so hoch entwickelt, dass das zusätzliche Gewicht einer Feder empfunden wird. Eine Fliege kann sich nicht auf den Körper setzen, ohne ihn in Bewegung zu bringen.“

(Transkription aus den →Taichi-Klassikern).


Hintergrundinfo:

Wer fortgesetzt Tai Chi Training absolviert, kann mit Zunahme der Fertigkeiten schließlich obigen Spruch nachvollziehen. Die Wahrnehmung und Achtsamkeit ist entsprechend geschärft. Jede noch so leichte Berührung kann wahrgenommen werden und beispielsweise das „Nachgeben“ (als „Technik“ des Tai Chi – wenn man es so bezeichnen möchte) ist so ausgeprägt, dass die minimalste Krafteinwirkung, der „winzigste Angriff(spunkt)“ – eben das „Aufsetzen einer Fliege“ – dazu führt, dass jene Kraft durch (Reaktions-)Bewegung „ins Nichts verläuft“ (sich ausgleicht).

Um diese Aussage wirklich zu verstehen, muss mancher Mensch sich zuvor vom Schulwissen verabschieden, dass der Mensch ausschließlich fünf Sinnesorgane bzw. nur fünf Sinneswahrnehmungen habe.

Hilfe diesen „Blödsinn“ abzulegen, bietet wie so oft, das Nachdenken(!):

  1. Sehen (Licht, Bilder) tun die Augen;
  2. Hören (Ton, Geräusche) tun die Ohren;
  3. Riechen (Geruch) erlaubt die Nase;
  4. Schmecken (Substanz, Konsistenz, sauer/salzig/bitter? – Geschmack) erfolgt mit der Zunge;
  5. Fühlen (Druck, Temperatur) mittels der Haut;

Soweit so gut – Aber: Fehlt da nicht was?

Na klar:

6. Gleichgewicht und Bewegung (Körper[Kopf-]Lage und -Bewegung) mit dem Gleichgewichtsorgan (Vestibularapparat).

…und schon haben wir 6 Sinne beisammen (Schulwissen und Binsenweisheiten abgehakt, erledigt).

Wer noch ein bißchen weiterdenkt, könnte auch überlegen:

7. Schmerz – Empfindung/Wahrnehmung durch Erfahrungswert scheint klar, Sinneseindruck: „weh“ / „nicht weh“ – aber Organ? -> Nerven?
…oder…

8. Lage der eigenen Gliedmaßen (Lage im Raum und Winkel der Extremität) – welches Sinnes-Organ?

9. An- und Entspannung von Körperteilen bzw Muskeln (Körper-„Anspannung“/“Entspannung“), welches Organ teilt mir das mit? Der Muskel? Ist der Muskel ein Sinnesorgan? hm…

10. Die Wahrnehmung des Krafteinsatzes des Körpers, bzw. seiner Glieder –  “ …hm…“ „…muss irgendeine Kombi sein aus Druckempfindlichkeit (Haut, Haare?), Muskelspannungsempfinden, Lage der Glieder… – Wie sonst nehme ich wahr, wie fest ich etwas greife oder jemand die Hand schüttle, …oder beim Rad in die Pedale trete?“

Hier spricht man dann von

Propriozeption

(von lateinisch „proprius“ für „eigen“ und „recipere“ für „aufnehmen“) bezeichnet die Wahrnehmung des eigenen Körpers nach dessen Lage im Raum, den Stellungen von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen zueinander sowie deren Veränderungen als Bewegungen in Raum und Zeit mitsamt dem Empfinden für Schwere, Spannung, Kraft und Geschwindigkeit.

Es handelt sich dabei um eine Eigenempfindung, welche physiologisch aus verschiedenen, unterschiedlichen Reizquellen stammend gebildet wird. Der Begriff geht zurück auf den 1906 vom britischen Neurophysiologen Charles Scott Sherrington (1857-1952) geprägten englischen Begriff.

Sowie von

Tiefensensibilität

Beim deutschen Begriff „Tiefensensibilität“ geht es überwiegend um die Eigenwahrnehmung des Körpers „in sich selbst“ (Interozeption).

Zur Tiefensensibilität zählt:

  • Lagesinn (oder Positionssinn), der Informationen über die Position des Körpers im Raum und die Stellung der Gelenke und des Kopfes liefert;
  • Kraftsinn, der Informationen über den Spannungszustand von Muskeln und Sehnen liefert;
  • Bewegungssinn (oder Kinästhesie, von altgriechisch „kineo“, deutsch „bewegen, sich bewegen“ und altgriechisch „aisthesis“, deutsch „Wahrnehmung, Erfahrung“), durch den eine Bewegungsempfindung und das Erkennen der Bewegungsrichtung ermöglicht wird.

Nur die Tiefensensibilität macht zum Beispiel erst das Gehen möglich, aber auch das Greifen und andere körperliche Tätigkeiten. Fahrradfahren benötigt eine diesbezüglich geschulte Tiefensensibilität. Was den meisten gar nicht bewusst/bekannt ist!

Die Propriozeption scheint „umfassender“, da auch Aussenreize für Innenempfindungen mit einbezogen werden.

Ich tendiere daher zu:

  • * „Propriozeption“ für „Innere Wahrnehmung“ – Eigenwahrnehmung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ (wie von Sherrington, s.o.);
  • * „Tiefensensibilität“ für Wahrnehmung des „Innen“ (Lagesinn, Kraftsinn, Bewegungssinn).

Anmerkung:

Die genauen Definitionen, Abgrenzungen, und der Unterschied (oder keiner?) zwischen den beiden Begriffen scheinen noch nicht absolut festgelegt.

Eine weitere Differenzierung wird dabei ebenfalls bei der Wahrnehmung vorgenommen: Innen, Außen, innerhalb von Organen, …, Außen auf innere Organe? oder Rezeptoren?, …oder Nervenbahnen?, eine Kombination von? usw. Es wird von Exterozeption, Viszerozeption, Interozeption, …, gesprochen. Kurz: Ein absolut noch nicht abgeschlossenes Forschungsgebiet, welches – siehe oben – seit mehr als 100 Jahren(!) noch vieles offen lässt.
Vor allem: Aufklärung und Aufnahme in den Schulunterricht, oder?

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